René Müller: "Fühle mich dem Team seit Jahrzehnten sehr nahe"

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Ein Leipziger ist er, wie er betont, "mit Leib und Seele". Geboren in der sächsischen Messestadt kam René Müller als Zehnjähriger zum 1. FC Lokomotive Leipzig, für den er über 20 Jahre lang spielte, dort zu einer Symbolfigur des Leipziger Fußballs wurde, zweimal "Fußballer des Jahres" in der DDR war und mit 46 Länderspielen hinter Jürgen Croy die Torwartlegende des DDR-Fußballs ist. Nach der Wende spielte der frühere Kapitän der DDR-Auswahl unter anderem für Dynamo Dresden, ehe er 1995 beim FC St. Pauli seine Spieler-Karriere beendet und die Laufbahn als Trainer einschlug.

Vor dem Länderspiel gegen Israel in seiner Heimatstadt am Donnerstag äußert sich René Müller (52) im Interview mit DFB-Redakteur Wolfgang Tobien über seine neue Rolle als Ehrenmitglied im Fan Club Nationalmannschaft, über seine Vorliebe zum FC Bayern München und zu den Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der bevorstehenden EM-Endrunde. Und er erklärt als ausgewiesener Elfmeterkiller und Strafstoßschütze, was ihn und andere Torhüterkollegen antreibt, sich der Herausforderung am ominösen Punkt zu stellen.

DFB.de: Rund 50.000 Mitglieder umfasst der Fan Club Nationalmannschaft zurzeit. Vor dem Länderspiel gegen Israel werden Sie als neues Ehrenmitglied im Fan Club aufgenommen und als Botschafter im Zentralstadion vorgestellt. Wie fühlen Sie sich als nunmehr offizieller Unterstützer der Nationalmannschaft?

René Müller: Ich verfolge die Nationalmannschaft nicht erst seit gestern. Mein erstes großes Erlebnis war 1966, als sie Vizeweltmeister wurde und ich das Turnier mit dem dramatischen Endspiel als Siebenjähriger mit meinem Vater und anderen älteren Herren in der guten Stube miterlebte. Danach habe ich die Nationalmannschaft bei allen Turnieren verfolgt und fühle mich dem Team seit Jahrzehnten sehr nahe -auch wenn ich für ein anderes Land gespielt habe. Die deutsche Teilung kam ja nicht zustande, weil die Bevölkerung das hier so wollte, sondern weil sie erzwungen wurde. Ich habe jedenfalls immer ein Zugehörigkeitsgefühl zur Nationalmannschaft empfunden.

DFB.de: Umso mehr freuen Sie sich, jetzt Ehrenmitglied im Fan Club zu werden?

Müller: Ich empfinde dies wirklich als Ehre, weil ich ja nie für den DFB gespielt habe. Deswegen wundert es mich schon ein bisschen, dass mir diese Rolle angetragen wurde und man mich jetzt in diesen Kreis aufnimmt. Das habe ich selbstverständlich nicht abgelehnt.

DFB.de: Welche Bedeutung und Wirkung hat Ihrer Meinung nach eine solch breite organisierte Unterstützung für die Nationalmannschaft?

Müller: Ich bin eigentlich eher für spontane Unterstützung, weil die mir natürlicher erscheint. Wie zum Beispiel auf St. Pauli. Doch auch bei Länderspielen habe ich große und echte Begeisterung miterlebt. In Berlin zum Beispiel gegen die Türkei beim 3:0-Sieg im Oktober 2010 herrschte eine fantastische Atmosphäre. Sensationell, welch großartige Stimmung die türkischen und deutschen Fans erzeugt haben. Da schlägt das Herz eines alten Fußballers sofort höher.

DFB.de: Gab es in Ihrer Jugend und Kindheit eine Mannschaft, der Sie als Fan die Daumen drückten?

Müller: Natürlich Lok Leipzig, wo ich schon als Kind mitgefiebert und dann über 20 Jahre tolle Spiele und schöne Erfolge auch im Europapokal miterleben konnte. Von 1967 an war es in der Bundesliga der FC Bayern, als er zum ersten Mal Europapokalsieger wurde. Damals habe ich mich für die Bayern entschieden und bewundere diesen Verein, dass er es über die Jahrzehnte bis heute, von zwei, drei kleinen Abstürzen abgesehen, hingekriegt hat, national und international ganz oben dabei zu sein. Geradezu sensationell und einzigartig ist es, dass er im Vergleich mit den anderen großen Bühnen in Europa immer schuldenfrei war und finanziell eine vorbildliche Rolle spielt.

DFB.de: Mit dem Spiel gegen Israel endet die direkte sportliche Vorbereitung der Auswahl von Jogi Löw für die EM in Polen und der Ukraine. Sehen Sie das Nationalteam für das erklärte Ziel EM-Gewinn gerüstet?

Müller: Zunächst einmal freut es mich, dass es nicht zu dem von manchem Politiker geforderten Boykott des Turniers gekommen ist. Die Spieler wären dabei die Leidtragenden gewesen. Ich habe das selbst 1984 erlebt, als der Ostblock die Olympischen Spiele in Los Angeles boykottierte. Wir hatten uns damals über den Zeitraum von zwei Jahren für das Olympia-Turnier qualifiziert. Drei Wochen vor dem Start bekamen wir dann mitgeteilt, dass wir zu Hause zu bleiben hätten. Wir waren alle total geschockt.

DFB.de: Ihre Ansicht zur sportlichen Ausgangssituation des Nationalteams?

Müller: Die Mannschaft scheint mir formell für ihr großes Vorhaben gerüstet. Jogi Löw hat völlig recht, dass er die Favoritenrolle nicht ablehnt. Natürlich hat Spanien als amtierender Welt- und Europameister den Hut auf. Doch wir sind mit den Spaniern inzwischen auf Augenhöhe. Ganz wichtig ist ein guter Start ins Turnier. Das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt, zuletzt 2010 mit unserem 4:0-Sieg beim WM-Start in Südafrika. Ich glaube, dass die Mannschaften bei einem solchen Turnier heute noch stärker abhängig sind von guter interner Stimmung als früher. Weil viele Spieler mir psychisch und mental nicht mehr so robust erscheinen wie vor 20, 30 Jahren. Daher ist ein guter Start ungeheuer hilfreich.

DFB.de: Was ist die besondere Stärke, die eigentliche Qualität der DFB-Auswahl?

Müller: Zunächst hilft uns sicherlich, dass viele unserer wichtigen Spieler in großen Vereinen spielen, bei den Bayern, bei Dortmund oder bei Real Madrid. Deshalb ist mir nicht bange, dass unsere Mannschaft die Kurve kriegt. Und man darf nicht übersehen, dass Jogi Löw jetzt schon seit acht Jahren mit dem Team arbeitet. Das heißt, die Mannschaft besitzt heute ein Korsett, einen Stamm, wobei mittlerweile nicht mehr sechs oder sieben Spieler ausgewechselt werden müssen, sondern höchstens mal zwei oder drei. Und die dritte Komponente ist schließlich die hervorragende Talentförderung, die von Matthias Sammer über die Nachwuchszentren der Vereine und die U-Mannschaften des Verbandes mit viel Erfolg und neuer Qualität in den vergangenen Jahren praktiziert wird. Das schlägt nunmehr nach ganz oben durch. Auf dieser Basis macht Jogi Löw sensationelle Arbeit. Ich wünsche ihm, dass er mit seinem Team auf jeden Fall ins Endspiel kommt.

DFB.de: Sehen Sie auch eine Problemzone?

Müller: Ich hoffe, dass sich die Innenverteidigung zusammenfindet und ein ähnliches Niveau erreicht, wie wir es bei früheren WM- und EM-Turnieren gewohnt waren.

DFB.de: Wie schätzen Sie insgesamt das Niveau der bevorstehenden EM-Endrunde ein?

Müller: Ich rechne mit einem sehr hohen Niveau. Nicht nur Spanien und Deutschland, sondern auch Holland hat eine ganz hervorragende Truppe. Der Fußball hat sich vor allem im Offensivbereich enorm weiterentwickelt. Alle Mannschaften werden versuchen, nach vorne zu spielen. Entscheidend wird sein, wer von ihnen bei Ballverlust mit möglichst vielen Spielern wieder schnell hinter den Ball kommt. Es ist also auch eine hohe Laufintensität zu erwarten.

DFB.de: Deutschland spielt gegen Israel in Leipzig. Welchen Stellenwert hat dieses Länderspiel für den Fußball in dieser Region?

Müller: Einen ganz großen Stellenwert. Der Verein des Großsponsors, der den Leipziger Fußball wieder in höhere Regionen führen will, ist leider nun auch im zweiten Jahr am Aufstieg in die 3. Liga gescheitert. Leipzig und die ganze Region lechzen nach großem Fußball. Umso schöner ist es, dass der DFB dieses Länderspiel hierher vergeben hat.

DFB.de: Wie beurteilen Sie generell die sportliche Entwicklung im nordostdeutschen Verbandsgebiet und speziell in Leipzig?

Müller: Solange kein Verein aus dem Nordosten den Durchbruch in die Bundesliga schafft, wird es immer Probleme geben. Solange können die Talente von unseren Vereinen hier nicht in ihren Nachwuchsleistungszentren gehalten werden, sondern werden nach wie vor frühzeitig abgeworben. Leipzig und Dresden haben das Potenzial, 30.000, 40.000 Zuschauer in ihre Stadien zu locken. Aue müsste die 2. Bundesliga halten, Erfurt dorthin zurückkehren, und auch Chemnitz müsste vielleicht mal hoch. Doch das ist alles ein zäher Kampf. Die Dresdner könnten am ehesten mittelfristig eine Leuchtturmfunktion übernehmen. Sie hätten in der Bundesliga immer eine volle Hütte und im Nordosten eine Ausstrahlung wie Borussia Dortmund im Westen.

DFB.de: Während Ihrer Zeit als Nationaltorwart waren Sie auch Kapitän der DDR-Auswahl. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Müller: Es lief vieles unrund in jenen Jahren, weshalb wir die großen Turniere immer verpasst hatten. Der Olympia-Boykott 1984 hat unserer Generation in ihrer Entwicklung riesig geschadet. Dennoch blicke ich auf meine Karriere beim DFV positiv und dankbar zurück. Ich war privilegiert durch den Fußball und habe dabei ganz Europa kennengelernt. Deswegen gab es für mich nie einen Eisernen Vorhang. Hinzu kamen rund 40 Europapokalspiele mit Lok Leipzig und dem – leider verlorenen – Endspiel in Athen 1987 gegen Ajax im Pokalsieger-Wettbewerb als Höhepunkt.

DFB.de: Das größte Spiel Ihrer Karriere war das damalige Halbfinale gegen Girondins Bordeaux. Sie wehrten beim Rückspiel in Leipzig im Elfmeterschießen zwei Elfmeter ab und verwandelten den entscheidenden letzten Elfmeter selbst mit einem spektakulären Schuss in den Winkel zum Sieg. "Ins linke obere Eck", so lautet ja auch das 2009 erschienene Buch über ihre Karriere. Werden Sie heute noch darauf angesprochen, wenn Sie durch Leipzig spazieren?

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Müller: Nicht nur in Leipzig. Ich habe ja vier Jahre in Nürnberg als Trainer gearbeitet, von 2007 und 2011 bei den Amateuren des Club. Ich werde dort und in Oberfranken, aber auch anderswo immer noch häufig darauf angesprochen. Obwohl mir das fast peinlich ist, denn die Lunge aus der Brust gelaufen haben sich ja in diesem Spiel die anderen Kollegen. Ich war halt in dem Drehbuch für dieses Spiel derjenige, der für das Happy-End sorgen durfte.

DFB.de: Ricardo schoss bei der EM 2004 im Elfmeterschießen Portugal ins Halbfinale. Jörg Butt, José Luis Chilavert aus Paraguay und etliche andere Torhüter sorgten immer wieder für Schlagzeilen als erfolgreiche Elfmeterschützen. Wie vor wenigen Tagen auch Manuel Neuer beim Champions-League-Finale gegen Chelsea. Was treibt einen Torwart in entscheidender Situation an den Elfmeterpunkt?

Müller: Zu meiner Zeit war das noch absolut ungewöhnlich. Und ich war auch keiner, der sich darum gerissen hat. Doch ich hatte einen präzisen Schuss und habe als Führungsspieler Verantwortung übernommen, wenn Not am Mann war. In den 90er Jahren kam das dann immer mehr auf. Jörg Butt war ja als Dauer-Elfmeterschütze in Hamburg und Leverkusen ein ausgewiesener Spezialist. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir Torhüter beim entscheidenden Elfmeterschießen den kürzeren Weg als die Feldspieler haben. Wir müssen ja nur die paar Meter aus dem Tor zum Elfmeterpunkt zurücklegen, während so mancher Feldspieler auf dem langen Marsch von der Mittelinie sich mit Selbstgesprächen den Kopf zergrübelt. Wenn der Torwart so etwas bemerkt, dann ist das für ihn schon mal ein großer Vorteil.

DFB.de: Nach Ende Ihrer Spieler-Karriere beim Zweitligisten FC St. Pauli begann ihre Laufbahn als Trainer. Was machen Sie heute?

Müller: Im Moment bin ich seit meinem Abschied von Nürnberg ohne Arbeit. Zwei lukrative Angebote sind mir in der Zwischenzeit aus der Hand gegangen und haben sich zerschlagen. Ich befinde mich im Wartestand und hoffe, dass ich zur neuen Saison wieder einen Job finde.

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Ein Leipziger ist er, wie er betont, "mit Leib und Seele". Geboren in der sächsischen Messestadt kam René Müller als Zehnjähriger zum 1. FC Lokomotive Leipzig, für den er über 20 Jahre lang spielte, dort zu einer Symbolfigur des Leipziger Fußballs wurde, zweimal "Fußballer des Jahres" in der DDR war und mit 46 Länderspielen hinter Jürgen Croy die Torwartlegende des DDR-Fußballs ist. Nach der Wende spielte der frühere Kapitän der DDR-Auswahl unter anderem für Dynamo Dresden, ehe er 1995 beim FC St. Pauli seine Spieler-Karriere beendet und die Laufbahn als Trainer einschlug.

Vor dem Länderspiel gegen Israel in seiner Heimatstadt am Donnerstag äußert sich René Müller (52) im Interview mit DFB-Redakteur Wolfgang Tobien über seine neue Rolle als Ehrenmitglied im Fan Club Nationalmannschaft, über seine Vorliebe zum FC Bayern München und zu den Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der bevorstehenden EM-Endrunde. Und er erklärt als ausgewiesener Elfmeterkiller und Strafstoßschütze, was ihn und andere Torhüterkollegen antreibt, sich der Herausforderung am ominösen Punkt zu stellen.

DFB.de: Rund 50.000 Mitglieder umfasst der Fan Club Nationalmannschaft zurzeit. Vor dem Länderspiel gegen Israel werden Sie als neues Ehrenmitglied im Fan Club aufgenommen und als Botschafter im Zentralstadion vorgestellt. Wie fühlen Sie sich als nunmehr offizieller Unterstützer der Nationalmannschaft?

René Müller: Ich verfolge die Nationalmannschaft nicht erst seit gestern. Mein erstes großes Erlebnis war 1966, als sie Vizeweltmeister wurde und ich das Turnier mit dem dramatischen Endspiel als Siebenjähriger mit meinem Vater und anderen älteren Herren in der guten Stube miterlebte. Danach habe ich die Nationalmannschaft bei allen Turnieren verfolgt und fühle mich dem Team seit Jahrzehnten sehr nahe -auch wenn ich für ein anderes Land gespielt habe. Die deutsche Teilung kam ja nicht zustande, weil die Bevölkerung das hier so wollte, sondern weil sie erzwungen wurde. Ich habe jedenfalls immer ein Zugehörigkeitsgefühl zur Nationalmannschaft empfunden.

DFB.de: Umso mehr freuen Sie sich, jetzt Ehrenmitglied im Fan Club zu werden?

Müller: Ich empfinde dies wirklich als Ehre, weil ich ja nie für den DFB gespielt habe. Deswegen wundert es mich schon ein bisschen, dass mir diese Rolle angetragen wurde und man mich jetzt in diesen Kreis aufnimmt. Das habe ich selbstverständlich nicht abgelehnt.

DFB.de: Welche Bedeutung und Wirkung hat Ihrer Meinung nach eine solch breite organisierte Unterstützung für die Nationalmannschaft?

Müller: Ich bin eigentlich eher für spontane Unterstützung, weil die mir natürlicher erscheint. Wie zum Beispiel auf St. Pauli. Doch auch bei Länderspielen habe ich große und echte Begeisterung miterlebt. In Berlin zum Beispiel gegen die Türkei beim 3:0-Sieg im Oktober 2010 herrschte eine fantastische Atmosphäre. Sensationell, welch großartige Stimmung die türkischen und deutschen Fans erzeugt haben. Da schlägt das Herz eines alten Fußballers sofort höher.

DFB.de: Gab es in Ihrer Jugend und Kindheit eine Mannschaft, der Sie als Fan die Daumen drückten?

Müller: Natürlich Lok Leipzig, wo ich schon als Kind mitgefiebert und dann über 20 Jahre tolle Spiele und schöne Erfolge auch im Europapokal miterleben konnte. Von 1967 an war es in der Bundesliga der FC Bayern, als er zum ersten Mal Europapokalsieger wurde. Damals habe ich mich für die Bayern entschieden und bewundere diesen Verein, dass er es über die Jahrzehnte bis heute, von zwei, drei kleinen Abstürzen abgesehen, hingekriegt hat, national und international ganz oben dabei zu sein. Geradezu sensationell und einzigartig ist es, dass er im Vergleich mit den anderen großen Bühnen in Europa immer schuldenfrei war und finanziell eine vorbildliche Rolle spielt.

DFB.de: Mit dem Spiel gegen Israel endet die direkte sportliche Vorbereitung der Auswahl von Jogi Löw für die EM in Polen und der Ukraine. Sehen Sie das Nationalteam für das erklärte Ziel EM-Gewinn gerüstet?

Müller: Zunächst einmal freut es mich, dass es nicht zu dem von manchem Politiker geforderten Boykott des Turniers gekommen ist. Die Spieler wären dabei die Leidtragenden gewesen. Ich habe das selbst 1984 erlebt, als der Ostblock die Olympischen Spiele in Los Angeles boykottierte. Wir hatten uns damals über den Zeitraum von zwei Jahren für das Olympia-Turnier qualifiziert. Drei Wochen vor dem Start bekamen wir dann mitgeteilt, dass wir zu Hause zu bleiben hätten. Wir waren alle total geschockt.

DFB.de: Ihre Ansicht zur sportlichen Ausgangssituation des Nationalteams?

Müller: Die Mannschaft scheint mir formell für ihr großes Vorhaben gerüstet. Jogi Löw hat völlig recht, dass er die Favoritenrolle nicht ablehnt. Natürlich hat Spanien als amtierender Welt- und Europameister den Hut auf. Doch wir sind mit den Spaniern inzwischen auf Augenhöhe. Ganz wichtig ist ein guter Start ins Turnier. Das hat die Vergangenheit immer wieder gezeigt, zuletzt 2010 mit unserem 4:0-Sieg beim WM-Start in Südafrika. Ich glaube, dass die Mannschaften bei einem solchen Turnier heute noch stärker abhängig sind von guter interner Stimmung als früher. Weil viele Spieler mir psychisch und mental nicht mehr so robust erscheinen wie vor 20, 30 Jahren. Daher ist ein guter Start ungeheuer hilfreich.

DFB.de: Was ist die besondere Stärke, die eigentliche Qualität der DFB-Auswahl?

Müller: Zunächst hilft uns sicherlich, dass viele unserer wichtigen Spieler in großen Vereinen spielen, bei den Bayern, bei Dortmund oder bei Real Madrid. Deshalb ist mir nicht bange, dass unsere Mannschaft die Kurve kriegt. Und man darf nicht übersehen, dass Jogi Löw jetzt schon seit acht Jahren mit dem Team arbeitet. Das heißt, die Mannschaft besitzt heute ein Korsett, einen Stamm, wobei mittlerweile nicht mehr sechs oder sieben Spieler ausgewechselt werden müssen, sondern höchstens mal zwei oder drei. Und die dritte Komponente ist schließlich die hervorragende Talentförderung, die von Matthias Sammer über die Nachwuchszentren der Vereine und die U-Mannschaften des Verbandes mit viel Erfolg und neuer Qualität in den vergangenen Jahren praktiziert wird. Das schlägt nunmehr nach ganz oben durch. Auf dieser Basis macht Jogi Löw sensationelle Arbeit. Ich wünsche ihm, dass er mit seinem Team auf jeden Fall ins Endspiel kommt.

DFB.de: Sehen Sie auch eine Problemzone?

Müller: Ich hoffe, dass sich die Innenverteidigung zusammenfindet und ein ähnliches Niveau erreicht, wie wir es bei früheren WM- und EM-Turnieren gewohnt waren.

DFB.de: Wie schätzen Sie insgesamt das Niveau der bevorstehenden EM-Endrunde ein?

Müller: Ich rechne mit einem sehr hohen Niveau. Nicht nur Spanien und Deutschland, sondern auch Holland hat eine ganz hervorragende Truppe. Der Fußball hat sich vor allem im Offensivbereich enorm weiterentwickelt. Alle Mannschaften werden versuchen, nach vorne zu spielen. Entscheidend wird sein, wer von ihnen bei Ballverlust mit möglichst vielen Spielern wieder schnell hinter den Ball kommt. Es ist also auch eine hohe Laufintensität zu erwarten.

DFB.de: Deutschland spielt gegen Israel in Leipzig. Welchen Stellenwert hat dieses Länderspiel für den Fußball in dieser Region?

Müller: Einen ganz großen Stellenwert. Der Verein des Großsponsors, der den Leipziger Fußball wieder in höhere Regionen führen will, ist leider nun auch im zweiten Jahr am Aufstieg in die 3. Liga gescheitert. Leipzig und die ganze Region lechzen nach großem Fußball. Umso schöner ist es, dass der DFB dieses Länderspiel hierher vergeben hat.

DFB.de: Wie beurteilen Sie generell die sportliche Entwicklung im nordostdeutschen Verbandsgebiet und speziell in Leipzig?

Müller: Solange kein Verein aus dem Nordosten den Durchbruch in die Bundesliga schafft, wird es immer Probleme geben. Solange können die Talente von unseren Vereinen hier nicht in ihren Nachwuchsleistungszentren gehalten werden, sondern werden nach wie vor frühzeitig abgeworben. Leipzig und Dresden haben das Potenzial, 30.000, 40.000 Zuschauer in ihre Stadien zu locken. Aue müsste die 2. Bundesliga halten, Erfurt dorthin zurückkehren, und auch Chemnitz müsste vielleicht mal hoch. Doch das ist alles ein zäher Kampf. Die Dresdner könnten am ehesten mittelfristig eine Leuchtturmfunktion übernehmen. Sie hätten in der Bundesliga immer eine volle Hütte und im Nordosten eine Ausstrahlung wie Borussia Dortmund im Westen.

DFB.de: Während Ihrer Zeit als Nationaltorwart waren Sie auch Kapitän der DDR-Auswahl. Mit welchem Gefühl blicken Sie auf diese Zeit zurück?

Müller: Es lief vieles unrund in jenen Jahren, weshalb wir die großen Turniere immer verpasst hatten. Der Olympia-Boykott 1984 hat unserer Generation in ihrer Entwicklung riesig geschadet. Dennoch blicke ich auf meine Karriere beim DFV positiv und dankbar zurück. Ich war privilegiert durch den Fußball und habe dabei ganz Europa kennengelernt. Deswegen gab es für mich nie einen Eisernen Vorhang. Hinzu kamen rund 40 Europapokalspiele mit Lok Leipzig und dem – leider verlorenen – Endspiel in Athen 1987 gegen Ajax im Pokalsieger-Wettbewerb als Höhepunkt.

DFB.de: Das größte Spiel Ihrer Karriere war das damalige Halbfinale gegen Girondins Bordeaux. Sie wehrten beim Rückspiel in Leipzig im Elfmeterschießen zwei Elfmeter ab und verwandelten den entscheidenden letzten Elfmeter selbst mit einem spektakulären Schuss in den Winkel zum Sieg. "Ins linke obere Eck", so lautet ja auch das 2009 erschienene Buch über ihre Karriere. Werden Sie heute noch darauf angesprochen, wenn Sie durch Leipzig spazieren?

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Müller: Nicht nur in Leipzig. Ich habe ja vier Jahre in Nürnberg als Trainer gearbeitet, von 2007 und 2011 bei den Amateuren des Club. Ich werde dort und in Oberfranken, aber auch anderswo immer noch häufig darauf angesprochen. Obwohl mir das fast peinlich ist, denn die Lunge aus der Brust gelaufen haben sich ja in diesem Spiel die anderen Kollegen. Ich war halt in dem Drehbuch für dieses Spiel derjenige, der für das Happy-End sorgen durfte.

DFB.de: Ricardo schoss bei der EM 2004 im Elfmeterschießen Portugal ins Halbfinale. Jörg Butt, José Luis Chilavert aus Paraguay und etliche andere Torhüter sorgten immer wieder für Schlagzeilen als erfolgreiche Elfmeterschützen. Wie vor wenigen Tagen auch Manuel Neuer beim Champions-League-Finale gegen Chelsea. Was treibt einen Torwart in entscheidender Situation an den Elfmeterpunkt?

Müller: Zu meiner Zeit war das noch absolut ungewöhnlich. Und ich war auch keiner, der sich darum gerissen hat. Doch ich hatte einen präzisen Schuss und habe als Führungsspieler Verantwortung übernommen, wenn Not am Mann war. In den 90er Jahren kam das dann immer mehr auf. Jörg Butt war ja als Dauer-Elfmeterschütze in Hamburg und Leverkusen ein ausgewiesener Spezialist. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir Torhüter beim entscheidenden Elfmeterschießen den kürzeren Weg als die Feldspieler haben. Wir müssen ja nur die paar Meter aus dem Tor zum Elfmeterpunkt zurücklegen, während so mancher Feldspieler auf dem langen Marsch von der Mittelinie sich mit Selbstgesprächen den Kopf zergrübelt. Wenn der Torwart so etwas bemerkt, dann ist das für ihn schon mal ein großer Vorteil.

DFB.de: Nach Ende Ihrer Spieler-Karriere beim Zweitligisten FC St. Pauli begann ihre Laufbahn als Trainer. Was machen Sie heute?

Müller: Im Moment bin ich seit meinem Abschied von Nürnberg ohne Arbeit. Zwei lukrative Angebote sind mir in der Zwischenzeit aus der Hand gegangen und haben sich zerschlagen. Ich befinde mich im Wartestand und hoffe, dass ich zur neuen Saison wieder einen Job finde.