Deutschlands Generalproben: Müller, immer wieder Müller

Das letzte Länderspiel vor einem Turnier verfolgt vielfältige Zwecke. Die Wunschformation soll sich einspielen, die Kadernominierung geklärt, Spielfreude aufgebaut oder ein kommender Gegner simuliert werden. Der Historiker Udo Muras erzählt von den Generalproben der DFB-Historie – von Schützenfesten, Maulkörben, Tragödien und einer Wechselorgie.

Die Zuschauer waren leicht verwundert. Zum Eintrittsbillet erhielten sie an der Kasse im Frankfurter Waldstadion einen Handzettel mit Verhaltensmaßregeln: „Es ergeht daher an die Zuschauer die Bitte, von draußen Anordnungen wie ‚Mittelläufer nach vorn’ zu unterlassen, weil dadurch die Spieler nur irritiert werden und von der Erfüllung der von ihnen verlangten Aufgaben abgehalten werden.“ Ein Maulkorb für die Fans – im Mai 1934 konnte man das noch versuchen. Hintergrund des ungewöhnlichen Appells: Reichstrainer Otto Nerz übte zwei Wochen vor der WM in Italien das neue, in England übliche WM-System ein, was nichts mit der Weltmeisterschaft zu tun hat, sondern aus der 3-2-2-3- Formation besteht, die aufgezeichnet ein „W“ und ein „M“ ergibt.

Tests gegen Derby County

Dafür ließ Nerz extra vier Testspiele gegen die englische Profi- Mannschaft von Derby County austragen. Wenn es auch keine offiziellen Länderspiele waren, waren sie doch öffentlich und hatten vor allem Testcharakter. Da Deutschland nach der Qualifikation keine Länderspiele mehr vor der WM 1934 bestritt, hatten die Kicks gegen Derby County also den Charakter einer Generalprobe. Und dafür galt es eben beim Anhang um Verständnis zu werben.

Derartiges wiederholte sich nie wieder, schon die nächste Gelegenheit stellte das krasse Gegenteil dar. Im Mai 1938 war das Mutterland des Fußballs, England, im Berliner Olympiastadion zu Gast. Trainer Sepp Herberger wurde vom Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten vorgeschrieben, die mythische Breslau-Elf aufzustellen, obwohl diese bei der WM nicht spielen durfte – da sollten per Beschluss aufgrund des gerade erfolgten Anschlusses von Österreich stets fünf Wiener im Team sein. So war der letzte Test vor der WM in Frankreich das krasse Gegenteil einer Generalprobe und ein Reinfall dazu – England triumphierte vor 105.000 Zuschauern mit 6:3. Es war die höchste DFB-Niederlage im letzten Test vor einem Turnier, insgesamt gab es nur vier in 25 Partien.

Ohne Retter zum Titel

Den ersten Sieg errangen die künftigen Helden von Bern (5:3 in Basel), auch wenn gegen die Schweiz nur sieben Spieler der späteren Weltmeister-Elf aufliefen. Herberger war noch am Tüfteln. Wozu ihn auch das Pech des Stuttgarter Verteidigers Erich Retter zwang, der mit Meniskusabriss ausschied und die WM verpasste. So rückte sein Vertreter Werner Kohlmeyer in die Elf von Bern. Er war nicht der Einzige, der im letzten Test seine Chance nutzte.

1962 testete Herberger in Hamburg gegen Uruguay den Ulmer Zweitliga-Torwart Wolfgang Fahrian. Der machte beim 3:0-Sieg einen so guten Eindruck, dass er in Chile überraschend zur Nummer eins wurde. Nachfolger Helmut Schön dagegen hatte vor der WM 1966 seine Elf im Grunde schon gefunden. Gegen Jugoslawien (2:0 in Hannover) spielte mit Ausnahme des Duisburger Linksaußens Werner Krämer, den Lothar Emmerich von Europacupsieger Borussia Dortmund verdrängte, schon die Elf von Wembley.



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Das letzte Länderspiel vor einem Turnier verfolgt vielfältige Zwecke. Die Wunschformation soll sich einspielen, die Kadernominierung geklärt, Spielfreude aufgebaut oder ein kommender Gegner simuliert werden. Der Historiker Udo Muras erzählt von den Generalproben der DFB-Historie – von Schützenfesten, Maulkörben, Tragödien und einer Wechselorgie.

Die Zuschauer waren leicht verwundert. Zum Eintrittsbillet erhielten sie an der Kasse im Frankfurter Waldstadion einen Handzettel mit Verhaltensmaßregeln: „Es ergeht daher an die Zuschauer die Bitte, von draußen Anordnungen wie ‚Mittelläufer nach vorn’ zu unterlassen, weil dadurch die Spieler nur irritiert werden und von der Erfüllung der von ihnen verlangten Aufgaben abgehalten werden.“ Ein Maulkorb für die Fans – im Mai 1934 konnte man das noch versuchen. Hintergrund des ungewöhnlichen Appells: Reichstrainer Otto Nerz übte zwei Wochen vor der WM in Italien das neue, in England übliche WM-System ein, was nichts mit der Weltmeisterschaft zu tun hat, sondern aus der 3-2-2-3- Formation besteht, die aufgezeichnet ein „W“ und ein „M“ ergibt.

Tests gegen Derby County

Dafür ließ Nerz extra vier Testspiele gegen die englische Profi- Mannschaft von Derby County austragen. Wenn es auch keine offiziellen Länderspiele waren, waren sie doch öffentlich und hatten vor allem Testcharakter. Da Deutschland nach der Qualifikation keine Länderspiele mehr vor der WM 1934 bestritt, hatten die Kicks gegen Derby County also den Charakter einer Generalprobe. Und dafür galt es eben beim Anhang um Verständnis zu werben.

Derartiges wiederholte sich nie wieder, schon die nächste Gelegenheit stellte das krasse Gegenteil dar. Im Mai 1938 war das Mutterland des Fußballs, England, im Berliner Olympiastadion zu Gast. Trainer Sepp Herberger wurde vom Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten vorgeschrieben, die mythische Breslau-Elf aufzustellen, obwohl diese bei der WM nicht spielen durfte – da sollten per Beschluss aufgrund des gerade erfolgten Anschlusses von Österreich stets fünf Wiener im Team sein. So war der letzte Test vor der WM in Frankreich das krasse Gegenteil einer Generalprobe und ein Reinfall dazu – England triumphierte vor 105.000 Zuschauern mit 6:3. Es war die höchste DFB-Niederlage im letzten Test vor einem Turnier, insgesamt gab es nur vier in 25 Partien.

Ohne Retter zum Titel

Den ersten Sieg errangen die künftigen Helden von Bern (5:3 in Basel), auch wenn gegen die Schweiz nur sieben Spieler der späteren Weltmeister-Elf aufliefen. Herberger war noch am Tüfteln. Wozu ihn auch das Pech des Stuttgarter Verteidigers Erich Retter zwang, der mit Meniskusabriss ausschied und die WM verpasste. So rückte sein Vertreter Werner Kohlmeyer in die Elf von Bern. Er war nicht der Einzige, der im letzten Test seine Chance nutzte.

1962 testete Herberger in Hamburg gegen Uruguay den Ulmer Zweitliga-Torwart Wolfgang Fahrian. Der machte beim 3:0-Sieg einen so guten Eindruck, dass er in Chile überraschend zur Nummer eins wurde. Nachfolger Helmut Schön dagegen hatte vor der WM 1966 seine Elf im Grunde schon gefunden. Gegen Jugoslawien (2:0 in Hannover) spielte mit Ausnahme des Duisburger Linksaußens Werner Krämer, den Lothar Emmerich von Europacupsieger Borussia Dortmund verdrängte, schon die Elf von Wembley.

Müller trifft viermal im neuen Olympiastadion

Schön sah es wohl als gutes Omen und ließ auch vor der WM 1970 wieder gegen Jugoslawien in Hannover testen. Diesmal fiel der Sieg knapper aus (1:0), Uwe Seeler traf. „Nur 1:0 und doch lief alles besser!“, titelte der Kicker. 60.000 Fans verabschiedeten die Spieler mit leichtem Beifall nach Mexiko, wo sie historische Spiele bestritten und auch für einen dritten Platz wie ein Weltmeister gefeiert wurden. Die vielleicht beste Generalprobe vor einem Turnier sahen 80.000 Menschen anlässlich der Einweihung des Münchner Olympiastadions 1972. Vier Wochen vor der EM in Belgien schoss Gerd Müller alle Tore zum 4:1 über die UdSSR. Der belgische Trainer Raymond Goethals saß auf der Tribüne und prophezeite: „Ich habe den europäischen Meister und den Weltmeister 1974 gesehen. Die belgische Mannschaft hat in Antwerpen überhaupt keine Chance.“ Er hatte vollkommen recht. München sah bereits die komplette, von aller Welt gefeierte Europameister-Elf von Brüssel.

Zufriedenstellend verlief auch der letzte Test vor der WM 1974 im eigenen Land, als im Regen von Hamburg Schweden 2:0 bezwungen wurde. Kurios: Jupp Heynckes wurde ein- und ausgewechselt, schoss aber zwischendurch beide Tore. Die Weltmeister-Elf fand sich an diesem Tag nicht und Schöns Plan, Netzer und Overath gemeinsam regieren zu lassen, platzte, da sich der Kölner kurz zuvor verletzte. So spielte Netzer allein, aber bei der WM machte er Overath Platz. Vor der EM 1976 gab es ein Novum: Helmut Schöns Team bestritt aus Termingründen kein einziges Test-Länderspiel, kam dennoch ins Finale.

Schön: "Ich muss mit einigen Spielern Fraktur reden"

Das schwache Abschneiden bei der WM 1978 am Ende der Schön-Ära in Argentinien kündigte sich schon im April an. Zwei Niederlagen (0:1 gegen Brasilien, 1:3 in Schweden) dämpften die Hoffnungen. Nach der Pleite von Stockholm, als Sepp Maier verletzt ausschied, grollte Schön: „Ich muss mit einigen Spielern Fraktur reden.“ Bei der WM spielten sie dann doch alle und erlebten ihr Cordoba. Ganz anders erging es Jupp Derwall: Er fand im letzten Test vor der EM 1980 in Italien seine Elf, die auf wesentlichen Positio - nen abwich von der, die so mühsam die Qualifikation geschafft hatte. Gegen Polen (3:1 in Frankfurt) spielten sich Torwart Harald Schumacher, Regisseur Bernd Schuster und Mittelstürmer Horst Hrubesch ins Team, das in Rom den EM-Pokal holte. Und im Kicker hieß es: „Unsere Nationalelf ist gut gerüstet für die EM."

Das galt für die meisten folgenden Turniere, auch wenn weiterhin nicht jede Generalprobe gelang. Doch sie erfüllte eben zuallerletzt den Zweck der guten Einstimmung. 1986 etwa galt es, den in der Rückrunde fast komplett fehlenden Bremer Stürmer Rudi Völler wieder aufzubauen – was gelang. Beim 3:1 gegen die Holländer traf er doppelt, das Dortmunder Publikum feierte ihn, und in Mexiko schoss er drei Tore.

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21 Spieler in einem Spiel

Vor der glorreichen WM 1990 wollte Franz Beckenbauer den ganzen Kader „Praxis sammeln lassen“ und das Gemeinschaftsgefühl stärken. So setzte er gegen die Dänen (1:0) außer Bodo Illgner alle Spieler ein. 21 Nationalspieler an einem Tag sind ein DFB-Rekord für die Ewigkeit. Nur Guido Buchwald spielte durch. Der Spielfluss litt nach der Pause gehörig, aber die Geschichte gab dem Kaiser mit der Krönung in Rom recht.

Berti Vogts testete 1992 in Bremen britische Härte, die Nordiren sollten die Schotten imitieren und gingen beim 1:1 entsprechend zur Sache. Weltmeister Pierre Littbarski erklärte in einer Kolumne: „Die Testspiele darf man nicht so ernst nehmen. Sie spiegeln nie das Leistungsvermögen einer Mannschaft wider.“ Noch unter Berti Vogts ging der DFB dazu über, gegen vermeintliche Aufbaugegner Spielfreude und Aufbruchstimmung zu erzeugen. Schützenfeste gegen Liechtenstein (9:1/1996 und 2000/8:2), Luxemburg (7:0/1998) oder Österreich (6:2/2002) förderten die Laune, wenn auch nicht in jedem Fall. 2000 hielten die Liechtensteiner in Freiburg gegen das Team von Erich Ribbeck bis zur 65. Minute ein 2:2. „Wenn die Start aufstellung gegen die Nummer 135 der FIFA-Weltrangliste – bis auf Kahn für Lehmann – die Elf für das Rumänien-Spiel gewesen sein soll, dann muss sich in allen Bereichen noch allerhand tun.“, mahnte der Kicker. Das Vorrundenaus kündigte sich schon an.

Klose etabliert, Deisler verletzt sich

Und 2002 trübte der Kreuzbandriss von Sebastian Deisler gegen Österreich die WM-Freude. Der dreifache Torschütze Miroslav Klose deutete allerdings künftige Großtaten an. Deutschland wurde WM-Zweiter, Klose etablierte sich als Mittelstürmer und erzielte fünf Tore. Nur vor der verpatzten EM 2004, als Ungarn mit Trainer Lothar Matthäus 2:0 am Betzenberg gewann und der Kicker aufschrie „Jetzt hilft nur noch ein Wunder!“, misslang im neuen Jahrtausend eine Generalprobe.

Kolumbien (2006/3:0) als Double von Costa Rica, Serbien (2008/2:1) alias Kroatien und Bosnien- Herzegowina (2010/3:1) als Serbien-Double erfüllten ihren Zweck. Auch wenn es dann doch immer ganz anders kommen kann, gilt für die Nationalauswahl: Einer guten Generalprobe folgt meist ein gutes Turnier. Denn vor allen WM- und EM-Triumphen gab es Siege.