Berti Vogts zum 70.: "Dem Fußball verdanke ich alles"

Er war Nationalspieler und Weltmeister, Bundestrainer und Europameister. Fünfmal wurde er Deutscher Meister und zweimal UEFA-Cup-Sieger mit der Borussia aus Möchengladbach, für die er 419 Bundesligaspiele bestritt. In 96 Länderspielen stand er als Verteidiger auf dem Spielfeld, in 102 Partien trug er als DFB-Cheftrainer an der Seitenlinie die Verantwortung und für ein Jahr bei Bayer Leverkusen als Bundesliga-Coach, ehe er sich 2001 ins Ausland verabschiedete. Als Nationaltrainer in Kuwait, Schottland, Nigeria und Aserbaidschan sowie zuletzt als Berater des US-Soccer an der Seite von Jürgen Klinsmann. Jetzt ist Berti Vogts, der – Vollwaise von Kindesbeinen an – es nie leicht hatte, es sich und seinem Umfeld angesichts der vielen sportlichen Höhen und Tiefen aber auch nie leicht gemacht hat, zurückgekehrt. Um zunächst am heutigen Freitag mit seiner Familie und zwei Wochen später mit Freunden und langjährigen Weggefährten seinen 70. Geburtstag zu feiern.

Im Exklusiv-Interview auf DFB.de mit Redakteur Wolfgang Tobien blickt Vogts zurück auf sein jüngstes Engagement in den USA, bilanziert das aktuelle Bundesliga-Geschehen und beschreibt aus seiner Sicht den derzeitigen Stellenwert der Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw. Und er sagt, was für ihn der größte Erfolg seiner fünf Jahrzehnte währenden Karriere im Profifußball war.

DFB.de: Hallo Herr Vogts, Twitter oder Facebook – wie sind Sie einen Tag vor Silvester für Glückwünsche zu Ihrem 70. Geburtstag erreichbar?

Berti Vogts: Schon gar nicht auf Twitter oder Facebook. Überhaupt nicht! Wer mich kennt, weiß, wie ich zu erreichen bin. 

DFB.de: Werden wir ein Selfie von Ihnen bei Ihrer Feier zu sehen bekommen?

Vogts: (lacht) Selfie, was ist das denn?

DFB.de: Wie sind Sie als in Kürze 70-Jähriger generell in den sozialen Medien vertreten und beheimatet?

Vogts: In dieser Hinsicht zu Hause bin ich nur bei E-Mail. Die bearbeite ich, damit regle ich, was zu regeln ist. Dabei bleibt es. Gerade in den vergangenen Wochen, als ich Weihnachtskarten kaufen wollte, war ich immer wieder enttäuscht, dass man kaum noch welche bekommt, weil die Geschäfte kaum noch welche ordern. Man wird dabei angeschaut wie ein Geist aus ferner Zeit mit der unausgesprochenen Frage, wie alt bist du denn, dass du noch Weihnachtsglückwünsche per Postkarte senden willst. Arme Zeit, kann ich nur sagen.

DFB.de: Wie fühlen Sie sich also jetzt beim Eintritt in Ihr achtes Lebensjahrzehnt?

Vogts: Wie vor fünf oder zehn Jahren. Ich laufe nach wie vor jeden zweiten Tag meine sechs, sieben Kilometer. Ich lebe mein Leben genauso wie bisher. Natürlich kommt im Alter immer mal ein kleiner gesundheitlicher Rückschlag. Doch ich habe sehr gute Ärzte, die mich durchchecken und wieder nach vorne bringen.

DFB.de: Wo und in welchem Rahmen werden Sie diesen runden Geburtstag feiern?

Vogts: Wie seit 30 Jahren fast regelmäßig werde ich auch diesmal den Jahreswechsel und meinen Geburtstag mit meiner Familie im Schwarzwald in der "Traube" in Tonbach feiern. Und Mitte Januar werde ich dort meine Kumpels, mit denen ich eine schöne Zeit hatte, für drei Tage zu einer speziellen Feier einladen.

DFB.de: Welche persönliche Bilanz ziehen Sie unter Ihr jetzt zu Ende gehendes Lebensjahr?

Vogts: Ich bin keiner, der grundsätzlich bilanziert, was gut und was schlecht war, was besser oder anders werden muss. Ein wenig traurig bin ich, dass Jürgen Klinsmann seinen Job in Amerika verloren hat, weil er dort, wie zuvor auch hier in Deutschland beim DFB, hervorragend gearbeitet hat. Wo er Jogi Löw, Oliver Bierhoff und Hansi Flick an führende Positionen gebracht hatte. Es ist schade, dass man ihm in den USA nicht länger vertraute.

DFB.de: Mit der Entlassung von Jürgen Klinsmann als Nationaltrainer der USA ging auch Ihre Tätigkeit als dessen persönlicher Berater zu Ende. Sehen Sie sich in diesem Engagement gescheitert?

Vogts: Ich war nicht, um das mal klar zu stellen, Jürgens persönlicher Berater. Ich war Berater des US-Soccer, des Verbandes. Mit Klinsmanns Entlassung habe ich auch meine Tätigkeit für den Verband sofort beendet. Ich hatte beim US-Soccer noch Vertrag bis 2018 mit dreimonatiger Kündigungszeit.

DFB.de: Sehen Sie sich also mit Ihrem Engagement in den USA gescheitert?

Vogts: Was heißt gescheitert? Unsere Vorschläge für die Nationalmannschaft stießen immer wieder auf zu großen Widerstand von der Liga. Da gab es kaum eine Umsetzungschance. Eines der größten Probleme war, um nur ein Beispiel zu nennen, dass am Tag eines Länderspiels gleichzeitig die Liga gespielt hat. Als würde, wenn unsere Nationalmannschaft gegen Italien spielt, am gleichen Nachmittag Bayern München gegen Borussia Dortmund im Rahmen eines kompletten Bundesliga-Spieltages antreten. Hinzu kam, dass wir mit unseren Anregungen für Nachwuchs-Akademien bei den Klubs stets auf taube Ohren stießen.

DFB.de: Letztlich führten die beiden Niederlagen gegen Mexiko und Costa Rica zur Trennung. Hatte Klinsmann nach fünf Jahren als US-Chefcoach keinen Bonus und Kredit mehr bei den Amerikanern?

Vogts: Ein ganz großes Problem für ihn war, dass er zu viele US-Spieler aus Europa nominiert hat. Weil er mit den Besten spielen wollte. Die Amerikaner glauben, dass sie im eigenen Land viel bessere Spieler haben als es die europäischen Spieler mit US-Pass sind. In dieser Beziehung kamen immer wieder massive Vorwürfe. Zudem verschließen sie die Augen vor der Klasse der Nationalteams aus Mexiko und Costa Rica. Die werden einfach nicht ernst genommen, weil man in den USA glaubt, wie im Basketball, American Football oder im Eishockey müssten sie auch im Soccer zu den drei besten Nationen auf der Welt gehören. Dazu gehört aber erst einmal, dass die Colleges und vor allem auch die Klubs erstklassige Spieler entwickeln.

DFB.de: Was hat Jürgen Klinsmann in Zukunft für Pläne?

Vogts: Er hat viele Anfragen. Doch er sollte jetzt erstmal abschalten. Das kann er in Kalifornien. Sein Sohn studiert in Stanfort. Seine Tochter geht in Los Angeles demnächst zur Uni. Jürgen ist ein reiner Familienmensch. Doch ich hoffe, dass er noch mal zurückkommt zum Fußball. Wir in Deutschland müssen ihm einfach Dank sagen für das, was er hier 2004 mit und nach seiner Amtsübernahme als Bundestrainer eingeführt hat.

DFB.de: Beginnend in den 70er-Jahren mit den Wechseln von Beckenbauer, Gerd Müller, Hölzenbein, Pele, Cruyff und anderen Stars zum US-Soccer wird dem Fußball dort der große Durchbruch prophezeit. Warum kommt er nach wie vor nicht zustande?

Vogts: Weil sie dort einfach nicht Fußball leben und die Spieler meistens zu spät, erst mit 15, 16 Jahren, zum Fußball kommen. Ganz im Gegensatz zum Frauen- und Mädchenfußball in den USA. Für sie ist Fußball die fast einzige Kampfsportart, die es gibt. Entsprechend leben und lieben sie ihn. Auf einer Stufe mit American Football im Männerbereich. Kein Wunder also, dass die US-Girls im Fußball zur Weltspitze gehören.

DFB.de: Zurück nach Deutschland. Ihr Urteil über die Bundesliga-Vorrunde 2016/2017...

Vogts: Ich freue mich über den frischen Wind, den Leipzig in die Bundesliga reingebracht hat. Vor allem, weil die etablierten Bayern-Konkurrenten noch nicht richtig Fuß gefasst haben in dieser Saison. Ich bin mal gespannt, ob Hertha das hohe Niveau hält, die Berliner waren ja schon vergangene Saison in der Hinserie sehr stark gewesen. Dortmund wird mit seiner unheimlich talentierten jungen Mannschaft auswärts noch stabiler werden, an Erfahrung hinzugewinnen. Eintracht Frankfurts Erfolgsstrecke ist für mich keine Überraschung, weil ich Nico Kovac und Fredi Bobic für sehr kompetent halte. Und Bayern München ist und bleibt Bayern München. Ich freue mich für Ancelotti. Die Frage ist und bleibt: Wer wird am Ende der Saison Zweiter?

DFB.de: Kann Leipzig den Bayern auf Dauer Paroli bieten?

Vogts: Mit Sicherheit! Wenn aus Österreich weiterhin das große Geld heranfließt, dann ist Leipzig ein großer Herausforderer der Bayern.

DFB.de: Wie bewerten Sie die noch immer sehr kontroversen Diskussionen über RB Leipzig?

Vogts: Ich kann nicht verstehen und nachvollziehen, warum Leipzig so in der Kritik stand und immer noch steht. Wir sollten doch froh sein, dass in den neuen Bundesländern eine Topmannschaft mit an der Bundesliga-Spitze steht. Mit einem entsprechenden Stadion und einem tollen Umfeld. Es gibt doch etliche andere Vereine bei uns und vor allem auch im Ausland, die von großen Sponsoren leben. Der Fußball benötigt heute große und engagierte Sponsoren, sonst bekommt man nicht die Qualität an Spielern, um Deutscher Meister zu werden oder erfolgreich in der Champions League mitzuspielen. Ohne sie hat man keine Chance auf Titel und internationale Wettbewerbsfähigkeit.

DFB.de: Wer war für Sie die positivste personelle Erscheinung in der Vorrunde?

Vogts: Für mich waren vor allem Dembele und Pulisic die Hingucker während der Vorrunde. Zwei Supertalente. Pulisic habe ich im US-Team selbst erlebt. Eine Höchstbegabung und dazu mit einem ganz einwandfreien Charakter.

DFB.de: Wer oder was hat Sie vor allem negativ überrascht?

Vogts: Ganz sicher Wolfsburg. Ich weiß nicht, was dort so schief lief. Angesichts des Materials und der Bedingungen, die vorhanden sind. Vielleicht hätte Klaus Allofs sofort Stellung beziehen sollen gegen Draxler. So verhält man sich nicht, auch und gerade nicht als Nationalspieler.

DFB.de: Was sagen Sie zum sportlichen Werdegang von Borussia Mönchengladbach?

Vogts: Ich muss schon sagen, dass ich ziemlich enttäuscht bin. Wenn geschrieben wird, "wir haben den besten Kader aller Zeiten", dann glauben die Spieler das und natürlich auch die tollen Zuschauer, die hinter der Borussia stehen. Dabei hat dieses Team noch keinen einzigen Titel gewonnen. Personell bedauere ich, dass der junge Mahmoud Dahoud etwas nachgelassen hat. Ich hoffe, dass er zurückfindet zu seiner anfangs gezeigten Form. Er ist ein überragendes Talent. Warum haben sie ihn nicht zu Olympia nach Brasilien gelassen? Das hätte ihm einen gewaltigen Schub gegeben.

DFB.de: Wie beurteilen Sie generell die immer schriller werdende Entwicklung im Fußballgeschäft – vor allem vor dem Hintergrund der gerade bekannt gewordenen Wahnsinnsvergütungen für Spitzenspieler und deren Berater?

Vogts: Okay, der Fußball muss für sich selbst entscheiden, welchen Weg er gehen wird. Jeder Spieler hat das Recht, sich einen Berater zu wählen. Ob die Vereine das alles in dieser Form mitmachen, bleibt ihnen überlassen. Sie haben natürlich den Beratern eine Tür geöffnet. Wen sie dort hereinlassen, das ist ihre Sache. Fakt ist aber auch, dass viele Spieler in der Vergangenheit von Vereinen über den Tisch gezogen wurden. Deshalb ist es verständlich, dass sie sich Berater an ihre Seite holen. Ich gehe davon aus, dass der Großteil der Berater seriös ist, doch leider ist dies, wie so häufig im Leben, nicht immer und überall der Fall. Die benutzen dann die Medien, wobei sofort etwas hochgeschossen wird, wie es jetzt in Wolfsburg der Fall ist.

DFB.de: Wo ordnen Sie die Bundesliga am Ende dieses Jahres im internationalen Vergleich ein?

Vogts: Sie gehört, damit verrate ich kein Geheimnis, zu den drei besten Ligen der Welt. Eine Reihenfolge festzulegen, geht nicht. Spanien, England, Deutschland – das ändert sich immer wieder. Ganz modern ist es ja hier und dort, eine eigene europäische Superliga einzufordern. Bitte nicht! Der Deutsche möchte seine eigene Bundesliga haben und dort die Topteams und seine Lieblingsmannschaften spielen sehen.

DFB.de: Welchen Gesamteindruck hinterließ die Nationalmannschaft bei Ihnen im Jahr 2016?

Vogts: Sie hat sich nach dem Triumph von Rio aus dem Wellental, in das sie ja auch schon nach dem WM-Gewinn 1990 geraten war, wieder herausgespielt und sich ganz oben wieder eingereiht. Ich meine, dass Jogi Löw einen Riesenjob macht und eine erstklassige Auswahl an Spielern zur Verfügung hat mit vielen Alternativen für jeden Anlass. Und er hat die Spielweise etwas verändert hin zu schnellerem und direkterem Angriff aufs gegnerische Tor.

DFB.de: Auf dem Weg zur WM 2018 werten etliche Experten den Confed Cup im kommenden Jahr in Russland als wichtige Standortbestimmung. Ihre Meinung?

Vogts: Standortbestimmung, das ist Quatsch. Inzwischen ist er eine reine Geldmacherei der FIFA. Ich kann nur den Kopf schütteln. Wichtiger wäre es für die Nationalmannschaft, in ihrem Basecamp für die WM 2018 im nächsten Jahr zwei Testsspiele gegen Russland oder eine andere Nation auszutragen.

DFB.de: Wird Jogi Löw der erste Bundestrainer, der mit seinem Team den WM-Titel erfolgreich verteidigt?

Vogts: Ich hoffe es. Und ich wünsche es auch seinem gesamten Umfeld um Oliver Bierhoff. Er hat die richtigen Mitarbeiter, um der Erste zu werden, der zweimal in Folge Weltmeister wird. Und er hat beim DFB-Präsidium und auch in der DFL, speziell mit Reinhard Rauball und Christian Seifert, die nötige Unterstützung durch den Profifußball. Diese Voraussetzungen, diese Einheit sind die Stärke des deutschen Fußballs. Man ist sich sehr deutlich bewusst, wie wichtig die Nationalmannschaft für den deutschen Fußball ist.

DFB.de: Welcher Titelgewinn in Ihrer Karriere hat für Sie den höheren Stellenwert – Weltmeister als Spieler 1974 oder Europameister als Bundestrainer 1996?

Vogts: Für mich war der wichtigste Titelgewinn 1990 in Italien. Weil dort 18 Spieler in Franz Beckenbauers WM-Team standen, die bei mir durch die diversen Jugend-Auswahlmannschaften gelaufen sind. In der U 16, U 18 und U 21.

DFB.de: In den vergangenen 15 Jahren war der Trainer Berti Vogts als Globetrotter unterwegs. Ist eine berufliche Rückkehr nach Deutschland möglich?

Vogts: Sie ist möglich, aber sehr schwierig, weil ich meine Probleme mit einer großen deutschen Zeitung habe. Als Trainer wird es aber mit Sicherheit keine Rückkehr geben.

DFB.de: Welche Überschrift würden Sie den bisherigen sieben Jahrzehnten Ihres Lebens geben?

Vogts: Danke, dass ich Fußball spielen durfte. Dem Fußball verdanke ich alles.

[wt]

Er war Nationalspieler und Weltmeister, Bundestrainer und Europameister. Fünfmal wurde er Deutscher Meister und zweimal UEFA-Cup-Sieger mit der Borussia aus Möchengladbach, für die er 419 Bundesligaspiele bestritt. In 96 Länderspielen stand er als Verteidiger auf dem Spielfeld, in 102 Partien trug er als DFB-Cheftrainer an der Seitenlinie die Verantwortung und für ein Jahr bei Bayer Leverkusen als Bundesliga-Coach, ehe er sich 2001 ins Ausland verabschiedete. Als Nationaltrainer in Kuwait, Schottland, Nigeria und Aserbaidschan sowie zuletzt als Berater des US-Soccer an der Seite von Jürgen Klinsmann. Jetzt ist Berti Vogts, der – Vollwaise von Kindesbeinen an – es nie leicht hatte, es sich und seinem Umfeld angesichts der vielen sportlichen Höhen und Tiefen aber auch nie leicht gemacht hat, zurückgekehrt. Um zunächst am heutigen Freitag mit seiner Familie und zwei Wochen später mit Freunden und langjährigen Weggefährten seinen 70. Geburtstag zu feiern.

Im Exklusiv-Interview auf DFB.de mit Redakteur Wolfgang Tobien blickt Vogts zurück auf sein jüngstes Engagement in den USA, bilanziert das aktuelle Bundesliga-Geschehen und beschreibt aus seiner Sicht den derzeitigen Stellenwert der Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw. Und er sagt, was für ihn der größte Erfolg seiner fünf Jahrzehnte währenden Karriere im Profifußball war.

DFB.de: Hallo Herr Vogts, Twitter oder Facebook – wie sind Sie einen Tag vor Silvester für Glückwünsche zu Ihrem 70. Geburtstag erreichbar?

Berti Vogts: Schon gar nicht auf Twitter oder Facebook. Überhaupt nicht! Wer mich kennt, weiß, wie ich zu erreichen bin. 

DFB.de: Werden wir ein Selfie von Ihnen bei Ihrer Feier zu sehen bekommen?

Vogts: (lacht) Selfie, was ist das denn?

DFB.de: Wie sind Sie als in Kürze 70-Jähriger generell in den sozialen Medien vertreten und beheimatet?

Vogts: In dieser Hinsicht zu Hause bin ich nur bei E-Mail. Die bearbeite ich, damit regle ich, was zu regeln ist. Dabei bleibt es. Gerade in den vergangenen Wochen, als ich Weihnachtskarten kaufen wollte, war ich immer wieder enttäuscht, dass man kaum noch welche bekommt, weil die Geschäfte kaum noch welche ordern. Man wird dabei angeschaut wie ein Geist aus ferner Zeit mit der unausgesprochenen Frage, wie alt bist du denn, dass du noch Weihnachtsglückwünsche per Postkarte senden willst. Arme Zeit, kann ich nur sagen.

DFB.de: Wie fühlen Sie sich also jetzt beim Eintritt in Ihr achtes Lebensjahrzehnt?

Vogts: Wie vor fünf oder zehn Jahren. Ich laufe nach wie vor jeden zweiten Tag meine sechs, sieben Kilometer. Ich lebe mein Leben genauso wie bisher. Natürlich kommt im Alter immer mal ein kleiner gesundheitlicher Rückschlag. Doch ich habe sehr gute Ärzte, die mich durchchecken und wieder nach vorne bringen.

DFB.de: Wo und in welchem Rahmen werden Sie diesen runden Geburtstag feiern?

Vogts: Wie seit 30 Jahren fast regelmäßig werde ich auch diesmal den Jahreswechsel und meinen Geburtstag mit meiner Familie im Schwarzwald in der "Traube" in Tonbach feiern. Und Mitte Januar werde ich dort meine Kumpels, mit denen ich eine schöne Zeit hatte, für drei Tage zu einer speziellen Feier einladen.

DFB.de: Welche persönliche Bilanz ziehen Sie unter Ihr jetzt zu Ende gehendes Lebensjahr?

Vogts: Ich bin keiner, der grundsätzlich bilanziert, was gut und was schlecht war, was besser oder anders werden muss. Ein wenig traurig bin ich, dass Jürgen Klinsmann seinen Job in Amerika verloren hat, weil er dort, wie zuvor auch hier in Deutschland beim DFB, hervorragend gearbeitet hat. Wo er Jogi Löw, Oliver Bierhoff und Hansi Flick an führende Positionen gebracht hatte. Es ist schade, dass man ihm in den USA nicht länger vertraute.

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DFB.de: Mit der Entlassung von Jürgen Klinsmann als Nationaltrainer der USA ging auch Ihre Tätigkeit als dessen persönlicher Berater zu Ende. Sehen Sie sich in diesem Engagement gescheitert?

Vogts: Ich war nicht, um das mal klar zu stellen, Jürgens persönlicher Berater. Ich war Berater des US-Soccer, des Verbandes. Mit Klinsmanns Entlassung habe ich auch meine Tätigkeit für den Verband sofort beendet. Ich hatte beim US-Soccer noch Vertrag bis 2018 mit dreimonatiger Kündigungszeit.

DFB.de: Sehen Sie sich also mit Ihrem Engagement in den USA gescheitert?

Vogts: Was heißt gescheitert? Unsere Vorschläge für die Nationalmannschaft stießen immer wieder auf zu großen Widerstand von der Liga. Da gab es kaum eine Umsetzungschance. Eines der größten Probleme war, um nur ein Beispiel zu nennen, dass am Tag eines Länderspiels gleichzeitig die Liga gespielt hat. Als würde, wenn unsere Nationalmannschaft gegen Italien spielt, am gleichen Nachmittag Bayern München gegen Borussia Dortmund im Rahmen eines kompletten Bundesliga-Spieltages antreten. Hinzu kam, dass wir mit unseren Anregungen für Nachwuchs-Akademien bei den Klubs stets auf taube Ohren stießen.

DFB.de: Letztlich führten die beiden Niederlagen gegen Mexiko und Costa Rica zur Trennung. Hatte Klinsmann nach fünf Jahren als US-Chefcoach keinen Bonus und Kredit mehr bei den Amerikanern?

Vogts: Ein ganz großes Problem für ihn war, dass er zu viele US-Spieler aus Europa nominiert hat. Weil er mit den Besten spielen wollte. Die Amerikaner glauben, dass sie im eigenen Land viel bessere Spieler haben als es die europäischen Spieler mit US-Pass sind. In dieser Beziehung kamen immer wieder massive Vorwürfe. Zudem verschließen sie die Augen vor der Klasse der Nationalteams aus Mexiko und Costa Rica. Die werden einfach nicht ernst genommen, weil man in den USA glaubt, wie im Basketball, American Football oder im Eishockey müssten sie auch im Soccer zu den drei besten Nationen auf der Welt gehören. Dazu gehört aber erst einmal, dass die Colleges und vor allem auch die Klubs erstklassige Spieler entwickeln.

DFB.de: Was hat Jürgen Klinsmann in Zukunft für Pläne?

Vogts: Er hat viele Anfragen. Doch er sollte jetzt erstmal abschalten. Das kann er in Kalifornien. Sein Sohn studiert in Stanfort. Seine Tochter geht in Los Angeles demnächst zur Uni. Jürgen ist ein reiner Familienmensch. Doch ich hoffe, dass er noch mal zurückkommt zum Fußball. Wir in Deutschland müssen ihm einfach Dank sagen für das, was er hier 2004 mit und nach seiner Amtsübernahme als Bundestrainer eingeführt hat.

DFB.de: Beginnend in den 70er-Jahren mit den Wechseln von Beckenbauer, Gerd Müller, Hölzenbein, Pele, Cruyff und anderen Stars zum US-Soccer wird dem Fußball dort der große Durchbruch prophezeit. Warum kommt er nach wie vor nicht zustande?

Vogts: Weil sie dort einfach nicht Fußball leben und die Spieler meistens zu spät, erst mit 15, 16 Jahren, zum Fußball kommen. Ganz im Gegensatz zum Frauen- und Mädchenfußball in den USA. Für sie ist Fußball die fast einzige Kampfsportart, die es gibt. Entsprechend leben und lieben sie ihn. Auf einer Stufe mit American Football im Männerbereich. Kein Wunder also, dass die US-Girls im Fußball zur Weltspitze gehören.

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DFB.de: Zurück nach Deutschland. Ihr Urteil über die Bundesliga-Vorrunde 2016/2017...

Vogts: Ich freue mich über den frischen Wind, den Leipzig in die Bundesliga reingebracht hat. Vor allem, weil die etablierten Bayern-Konkurrenten noch nicht richtig Fuß gefasst haben in dieser Saison. Ich bin mal gespannt, ob Hertha das hohe Niveau hält, die Berliner waren ja schon vergangene Saison in der Hinserie sehr stark gewesen. Dortmund wird mit seiner unheimlich talentierten jungen Mannschaft auswärts noch stabiler werden, an Erfahrung hinzugewinnen. Eintracht Frankfurts Erfolgsstrecke ist für mich keine Überraschung, weil ich Nico Kovac und Fredi Bobic für sehr kompetent halte. Und Bayern München ist und bleibt Bayern München. Ich freue mich für Ancelotti. Die Frage ist und bleibt: Wer wird am Ende der Saison Zweiter?

DFB.de: Kann Leipzig den Bayern auf Dauer Paroli bieten?

Vogts: Mit Sicherheit! Wenn aus Österreich weiterhin das große Geld heranfließt, dann ist Leipzig ein großer Herausforderer der Bayern.

DFB.de: Wie bewerten Sie die noch immer sehr kontroversen Diskussionen über RB Leipzig?

Vogts: Ich kann nicht verstehen und nachvollziehen, warum Leipzig so in der Kritik stand und immer noch steht. Wir sollten doch froh sein, dass in den neuen Bundesländern eine Topmannschaft mit an der Bundesliga-Spitze steht. Mit einem entsprechenden Stadion und einem tollen Umfeld. Es gibt doch etliche andere Vereine bei uns und vor allem auch im Ausland, die von großen Sponsoren leben. Der Fußball benötigt heute große und engagierte Sponsoren, sonst bekommt man nicht die Qualität an Spielern, um Deutscher Meister zu werden oder erfolgreich in der Champions League mitzuspielen. Ohne sie hat man keine Chance auf Titel und internationale Wettbewerbsfähigkeit.

DFB.de: Wer war für Sie die positivste personelle Erscheinung in der Vorrunde?

Vogts: Für mich waren vor allem Dembele und Pulisic die Hingucker während der Vorrunde. Zwei Supertalente. Pulisic habe ich im US-Team selbst erlebt. Eine Höchstbegabung und dazu mit einem ganz einwandfreien Charakter.

DFB.de: Wer oder was hat Sie vor allem negativ überrascht?

Vogts: Ganz sicher Wolfsburg. Ich weiß nicht, was dort so schief lief. Angesichts des Materials und der Bedingungen, die vorhanden sind. Vielleicht hätte Klaus Allofs sofort Stellung beziehen sollen gegen Draxler. So verhält man sich nicht, auch und gerade nicht als Nationalspieler.

DFB.de: Was sagen Sie zum sportlichen Werdegang von Borussia Mönchengladbach?

Vogts: Ich muss schon sagen, dass ich ziemlich enttäuscht bin. Wenn geschrieben wird, "wir haben den besten Kader aller Zeiten", dann glauben die Spieler das und natürlich auch die tollen Zuschauer, die hinter der Borussia stehen. Dabei hat dieses Team noch keinen einzigen Titel gewonnen. Personell bedauere ich, dass der junge Mahmoud Dahoud etwas nachgelassen hat. Ich hoffe, dass er zurückfindet zu seiner anfangs gezeigten Form. Er ist ein überragendes Talent. Warum haben sie ihn nicht zu Olympia nach Brasilien gelassen? Das hätte ihm einen gewaltigen Schub gegeben.

DFB.de: Wie beurteilen Sie generell die immer schriller werdende Entwicklung im Fußballgeschäft – vor allem vor dem Hintergrund der gerade bekannt gewordenen Wahnsinnsvergütungen für Spitzenspieler und deren Berater?

Vogts: Okay, der Fußball muss für sich selbst entscheiden, welchen Weg er gehen wird. Jeder Spieler hat das Recht, sich einen Berater zu wählen. Ob die Vereine das alles in dieser Form mitmachen, bleibt ihnen überlassen. Sie haben natürlich den Beratern eine Tür geöffnet. Wen sie dort hereinlassen, das ist ihre Sache. Fakt ist aber auch, dass viele Spieler in der Vergangenheit von Vereinen über den Tisch gezogen wurden. Deshalb ist es verständlich, dass sie sich Berater an ihre Seite holen. Ich gehe davon aus, dass der Großteil der Berater seriös ist, doch leider ist dies, wie so häufig im Leben, nicht immer und überall der Fall. Die benutzen dann die Medien, wobei sofort etwas hochgeschossen wird, wie es jetzt in Wolfsburg der Fall ist.

DFB.de: Wo ordnen Sie die Bundesliga am Ende dieses Jahres im internationalen Vergleich ein?

Vogts: Sie gehört, damit verrate ich kein Geheimnis, zu den drei besten Ligen der Welt. Eine Reihenfolge festzulegen, geht nicht. Spanien, England, Deutschland – das ändert sich immer wieder. Ganz modern ist es ja hier und dort, eine eigene europäische Superliga einzufordern. Bitte nicht! Der Deutsche möchte seine eigene Bundesliga haben und dort die Topteams und seine Lieblingsmannschaften spielen sehen.

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DFB.de: Welchen Gesamteindruck hinterließ die Nationalmannschaft bei Ihnen im Jahr 2016?

Vogts: Sie hat sich nach dem Triumph von Rio aus dem Wellental, in das sie ja auch schon nach dem WM-Gewinn 1990 geraten war, wieder herausgespielt und sich ganz oben wieder eingereiht. Ich meine, dass Jogi Löw einen Riesenjob macht und eine erstklassige Auswahl an Spielern zur Verfügung hat mit vielen Alternativen für jeden Anlass. Und er hat die Spielweise etwas verändert hin zu schnellerem und direkterem Angriff aufs gegnerische Tor.

DFB.de: Auf dem Weg zur WM 2018 werten etliche Experten den Confed Cup im kommenden Jahr in Russland als wichtige Standortbestimmung. Ihre Meinung?

Vogts: Standortbestimmung, das ist Quatsch. Inzwischen ist er eine reine Geldmacherei der FIFA. Ich kann nur den Kopf schütteln. Wichtiger wäre es für die Nationalmannschaft, in ihrem Basecamp für die WM 2018 im nächsten Jahr zwei Testsspiele gegen Russland oder eine andere Nation auszutragen.

DFB.de: Wird Jogi Löw der erste Bundestrainer, der mit seinem Team den WM-Titel erfolgreich verteidigt?

Vogts: Ich hoffe es. Und ich wünsche es auch seinem gesamten Umfeld um Oliver Bierhoff. Er hat die richtigen Mitarbeiter, um der Erste zu werden, der zweimal in Folge Weltmeister wird. Und er hat beim DFB-Präsidium und auch in der DFL, speziell mit Reinhard Rauball und Christian Seifert, die nötige Unterstützung durch den Profifußball. Diese Voraussetzungen, diese Einheit sind die Stärke des deutschen Fußballs. Man ist sich sehr deutlich bewusst, wie wichtig die Nationalmannschaft für den deutschen Fußball ist.

DFB.de: Welcher Titelgewinn in Ihrer Karriere hat für Sie den höheren Stellenwert – Weltmeister als Spieler 1974 oder Europameister als Bundestrainer 1996?

Vogts: Für mich war der wichtigste Titelgewinn 1990 in Italien. Weil dort 18 Spieler in Franz Beckenbauers WM-Team standen, die bei mir durch die diversen Jugend-Auswahlmannschaften gelaufen sind. In der U 16, U 18 und U 21.

DFB.de: In den vergangenen 15 Jahren war der Trainer Berti Vogts als Globetrotter unterwegs. Ist eine berufliche Rückkehr nach Deutschland möglich?

Vogts: Sie ist möglich, aber sehr schwierig, weil ich meine Probleme mit einer großen deutschen Zeitung habe. Als Trainer wird es aber mit Sicherheit keine Rückkehr geben.

DFB.de: Welche Überschrift würden Sie den bisherigen sieben Jahrzehnten Ihres Lebens geben?

Vogts: Danke, dass ich Fußball spielen durfte. Dem Fußball verdanke ich alles.

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